Gleiches Presserecht für alle Medien, Transferzentren für die Kreativhochschulen

Keynote auf Forum Kreativwirtschaft der Bundesregierung am 13. November 2019 im Westhafen Convention Center, Berlin

Sebastian Turner – Kreative in duerftiger Zeit.pdf

Keynote auf dem Forum Kreativwirtschaft der Bundesregierung am 13. November 2019 in Berlin

Liebe Kreative in Wirtschaft, Kultur und Kabinett,

wenn hier und jetzt ein Mann auf der Bühne erscheint, dann kann das nur daran liegen, dass eine Frau keine Zeit hat. Das stimmt. Die Frau heisst Jutta Allmendinger und ist leider verhindert. Nicht nur Sie bedauern das, ich hätte ihren Vortrag auch gerne gehört. Ich habe Jutta Allmendinger deshalb gefragt, was sie vorgetragen hätte. Sie hätte sich mit dem gesellschaftlichen Rahmen beschäftigt. Damit fange ich dann sicherheitshalber mal an.

Mich hat eine Zahl verblüfft, für die ich zunächst keine Erklärung gefunden habe. Eine erstaunlich großer Teil der Deutschen, weit oberhalb jeder statistischen Fehlerquote, sagt allen Ernstes, dass er sich in unserem Land nicht mehr frei äussern könne. Wir werden überhäuft von einem Meinungsgranulat, das in Menge und Breite von niemandem mehr verarbeitet werden kann, und ein grosser Teil der Deutschen sieht nicht die praktizierte Freiheit, sondern empfindet es als Unfreiheit. Zugleich erleben wir eine Welle des Populismus und eine Verrohung, die bis zu Hassmorden führt. Wie kann das sein?

Es ist ein Allgemeinplatz, der Jutta Allmendinger vermutlich zu banal gewesen wäre, aber ich spreche ihn aus: Kreativität braucht Toleranz.

Möglicherweise steckt in dieser einfachen Betrachtung eine Erklärung, warum die Deutschen inmitten von Meinungsunmengen meinen, sie hätten weniger Meinungsfreiheiten. Der Wissenschaftler Cass Sunstein von der Universität Harvard hat kürzlich die einschlägige Forschung zusammengefasst: Die sozialen Medien polarisieren Gesellschaften. Soziale Medien spalten. Die sozialen Medien sind tatsächlich asoziale Medien. Die Spaltung ist ihr Kern, denn die Polarisierung bindet ihr Publikum und diese Bindung lässt sich verwerten.

Die Intoleranz, die jedermann entgegenschlägt, sobald er von einem Algorithmus als wehrloses Erregungspotential geortet wurde, kann von jedem Betroffenen als brutales Niedermachen der eigenen Ausdrucksfreiheit empfunden werden.

Natürlich betrifft die anwachsende Intoleranz nicht nur die Kreativwirtschaft – sie bedroht das gesamte Gemeinwesen, aber dennoch ist das Thema bei den Kreativen am richtigen Platz. Die Kreativen müssen als besonders stark von der Toleranz abhängige Gruppe als erste unsere freiheitliche Existenzgrundlage verteidigen.

Ich will das auch gerne als eine konkrete politische Handlungsaufforderung formulieren. Wir haben umfangreiche, eindeutige und unfassbar katastrophale Erfahrungen mit der Polarisierung und Zerstörung von Gesellschaften gemacht, dass niemand die Lehren daraus ignorieren darf. Wenn ein fundamental neues Medium aufkommt, wird erst die Gesellschaft erschüttert, wenn nicht zugrunde gerichtet, ehe man sich auf ihren Ruinen auf angemessene Spielregeln verständigt. Hier ist nicht der Platz für einen weltgeschichtlichen Abriss, aber ohne die ersten Druckerpressen und Flugblätter hätte es keinen Dreißigjähriger Krieg gegeben und ohne die ersten elektronischen Medien, denken Sie beim Radio auch an den Volksempfänger, keinen „totalen Krieg“. Die einfache, wirksame Lehre, die wir als Gesellschaft daraus gezogen haben: Es gibt keine Veröffentlichung ohne Verantwortung. Das war einmal eine Regel für alle. Die Politik hat dann eine Sonderwirtschaftszone für den Handel mit Hass eingerichtet, das sogenannte Plattformprivileg für die sozialen Medien. Dieses rechtsfreie Gebiet zwischen Verantwortungslosigkeit und gewerbsmässiger Verrohung ignoriert die Erfahrungen von fünf Jahrhunderten. Wir haben heute die rechtliche Absurdität, dass publizistische Mikroorganismen wie etwa Schülerzeitungen einen verantwortlichen Redakteur und Drucker nennen müssen, während Medien, die irreführenderweise den Zusatz „sozial“ tragen und Millionen Menschen aufhetzen oder in Depression stürzen, dieser Norm nicht unterliegen. Wenn wir der Zersetzung der Gesellschaft nicht weiter zusehen möchten, muss das Plattformprivileg fallen. Die zwingend notwendigen Spielregeln gibt es und sie gelten für alle anderen schon lange: Wir müssen das Presserecht endlich auf alle Medien anwenden, auch auf die sozialen.

Wenn ich im gemeinsamen Positionspapier der Unionsfraktion zur Weiterentwicklung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes vom 22. Oktober 2019 unter Punkt 1 lese, der Gesetzgeber solle für Plattformbetreiber die Haftungsprivilegierung fortschreiben, dann frage ich Sie: Warum? Als sich unser Gastgeber, der Minister Altmaier, kürzlich bei einer Veranstaltung verletzte, war das eine Nachricht in wohl allen Medien. In einer Mediengattung wurde er bei diesem Anlass mit widerlichstem Unrat überschüttet. – Das waren allein und ausschliesslich die Medien, die vom Presserecht ausgenommen sind. Die Sozialen Medien missbrauchen das Plattformprivileg als Plattmachprivileg. Die überfällige Antwort heisst: Gleiches Presserecht für alle.

Lassen wir den Morast der sozialen Medien hinter uns, steigen wir auf in die Höhen der kreativ- und kulturwirtschaftlichen Berufe und Berufenen. Es gibt elf Teilbranchen mit bald zwei Millionen Kreativtätigen, wovon grob die Hälfte von ihrer Arbeit leben kann.

Die Fülle der berechtigten Anliegen und politischen Forderungen von den Holzeinfuhrnachweisbestimmungen für Holzinstrumentbauerinnen bis zur sozialen Absicherung von Schauspielern hat mich beeindruckt, überfordert und dazu angestiftet, das größte gemeinsame Problem zu suchen.

Bei der Problemanalyse bin ich zunächst auf eine statistische Merkwürdigkeit gestossen, um nicht zu sagen: auf statistisches Irrlicht. Damit die Kreativwirtschaft auch die Gamer eingemeinden kann, wurde in die Kreativwirtschafts-Statistik gleich die ganze Softwarebranche einbezogen. Das bringt mit sich, dass Deutschlands wertvollstes Börsenunternehmen, SAP, jetzt auch bei den Kreativen mitzählt. Ich habe extra noch einmal im Wirtschaftsministerium nachgefragt. Ja, SAP zählt jetzt mit in der Kreativwirtschaft. Das wirkt sich aus. SAP ist mit 25 Milliarden Jahresumsatz so groß wie der gesamte Kunstmarkt, die gesamten darstellenden Künste, die gesamte Musikwirtschaft und die gesamte Filmwirtschaft – zusammen! Herzlich willkommen, das ist mal prächtiger Nachwuchs! Leider verzerrt er alles – bis ins Gegenteil.

Im „Monitoringbericht Kultur- und Kreativwirtschaft“ der Bundesregierung steht die Softwarebranche nach Umsatz auf Platz 1 als grösster Einzelbereich der Kreativwirtschaft – mit etwa einem Drittel. Bei den Innovationsbudgets steuert die Softwaresparte über 70 Prozent bei und beim jährlichen Wachstum gehen sogar 90 Prozent der Kreativwirtschaft allein auf die Softwaresparte zurück. Die Kreativwirtschaft stagniert – aber wenn man SAP dazu nimmt, sieht es gar nicht mehr so übel aus. Bei solchen Statistikern muss man wahrscheinlich schon dankbar sein, dass sie nicht auf den Einfall kamen, auch noch die kreativsten Softwareentwickler aufzunehmen – das sind natürlich die Dieselprogrammierer in der Autoindustrie. Dann wäre auch noch die ganze Autobranche in die Kreativstatistik eingeflossen.

Wenn die Bundesregierung auf dieser Tatsachenbasis sagt: Die Kreativwirtschaft investiere kräftig in Innovation und wachse, dann ist das schräg genug. Wenn die Kreativen das aber auch noch glauben, dann spricht das sehr für das gut belegte Vorurteil, Kreative seien ökonomische Analphabeten.

Damit wären wir beim zentralen Widerspruch der Kreativwirtschaft, der größer kaum sein könnte.

Diese Berufsgruppe maßt sich an, göttlich zu sein. Das wagen nicht einmal die Theologen. Die Kreativen schon. Sie sind alle Schöpfer. Niemand sonst in der amtlichen Berufsstatistik hat sich als Geschäftsgrundlage den Hochmut ausgewählt. Und jetzt schauen wir uns die Durchschnittsgehälter an. Wo landen wir? Im Niedriglohnsektor! Vom Hochmut in den Niedriglohn, man kann auch sagen: Bei der Kreativwirtschaft geht es von der Berufsjugendlichkeit direkt  in die Altersarmut.

Die prekäre Vergütung vieler dürfte das zentrale Problem der Branche sein. Wie kann das sein – und was kann man tun?

Fangen wir mit den Ursachen an. Es gibt sicher viele Gründe und ein besonders guter ist, dass die schöpferischen Berufe viel mehr als Geld zu bieten haben. Sinn, Erfüllung, Flow, Purpose – die Namen ändern sich, die Kreativwirtschaft hat es. Das dürfen wir nicht vergessen. Heute soll es aber mal ums Geld gehen – und dem Problem sollten wir auf den Grund gehen.

Fangen wir bei der Ausbildung an. Ich habe eine Reihe von mir bekannten Professoren an Kunsthochschulen gefragt: Kann es sein, dass sich ausgerechnet immer die Kollegen auf Professorenstellen bewerben, die sich besonders wenig für die wirtschaftliche Seite des Berufes interessieren?

Mehrfach habe ich gehört: Ja, ich bin auch so ein Fall. Ein Professor sagte: „Wir halten uns da nicht fein raus, wir halten uns faul raus.“

Auf soviel Selbsterkenntnis kann man aufbauen!

Zu dieser Selbstkritik waren jedenfalls die Mitglieder des „Fachverbandes für die wirtschaftlichen Interessen des Kunstgewerbes“ nicht in der Lage. Ihr Direktor sagte bei der dritten Jahrestagung: „nur wo die Mittel beschränkt sind, wendet man sich dem Modernen zu, (…) das daher der Stil der Minderbemittelten“ sei. Das Moderne als Ausdruck der Minderbemittelten!

Das war 1909 und eine verzweifelte Reaktion auf den Wechsel eines Kunstprofessors in die Wirtschaft. Der Rektor der Kunstgewerbeschule Düsseldorf wurde Kreativchef des spektakulärsten Industrieaufsteigers seiner Zeit. Für die Jüngeren: Der Mann war sowas wie der deutsche Steve Jobs – und er hat mehr als nur Kleingeräte hervorgebracht. Sein Name: Peter Behrens, seine Firma: die AEG von Emil Rathenau. Mit klarem Blick für die Zukunft suchte er „eine möglichst innige Verbindung von Kunst und Industrie“ und zog, wie der Kunsthistoriker Tilmann Buddensieg schreibt, die scharfe Kritik der Volks- und Heimatkünstler auf sich, die ihn überhaupt nicht verstanden. Sie meinten, er unterwerfe sich der Industrie. Dabei war er es, der die Industrie unterwarf und nach seinem Bild gestaltete.

Wenn Sie sich in diese Zeit einfühlen wollen, dann schauen Sie sich um. Dieses Stück des Berliner Westhafens wurde als Hafenland erworben, als Behrens 1907 zur AEG kam und diese Lagerhalle wurde gebaut, als er 1914 die AEG verliess. Danach hat Ford hier schwarze T-Modelle montiert. Jetzt ist die Halle mit elegant schwarz gekleideten Menschen gefüllt und die fragen sich: Wie meistern wir die nächste wirtschaftliche Revolution – wie können wir sie sogar gestalten und bestenfalls davon leben?

Als ich mich durch die dicken Dokumentationen der inzwischen zehnjährigen „Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft der Bundesregierung“ gearbeitet habe, fand ich zwar die bereits vorgestellte statistische Einverleibung – aber keine systematische Evaluierung. Vielleicht habe ich sie übersehen – vielleicht hat ihre Abwesenheit aber auch einen Grund. Sie wäre womöglich negativ ausgefallen.

Die Verwaltung ist kein geborener Innovationsbrutkasten. Das liegt nicht daran, dass Verwaltungsmitarbeiter einfallslos wären. Ich bin sicher, dass Ideenreichtum und Phantasielosigkeit in Privatwirtschaft und öffentlicher Verwaltung gleichmässig und gerecht verteilt sind. Was den öffentlichen und den privaten Sektor wirklich trennt, das ist die Arbeitsweise. Innovation lebt von Versuch und Irrtum – so arbeiten erfolgreiche Unternehmen. Aber wehe, ein Amt arbeitet nach diesem Prinzip! Irrtümer sind das Letzte, was man sich von einer Verwaltung wünscht. Deswegen sind viele, wenn nicht alle Bemühungen, Innovation durch die Verwaltung zu befördern, nahezu wirkungslos. Wir sollten aber nicht vorschnell sagen, der Staat könne Innovation gar nicht fördern. Es gibt einen Ort im öffentlichen Sektor, an dem Irrtümer ohne Gesichtsverlust korrigiert werden können. Das sind die Hochschulen. Wenn eine Professorin sagt: Ich habe meinen Standpunkt geändert, dann ist das staatlich anerkannter Fortschritt. Wenn dagegen eine Verwaltung sagt: Erst dachten wir, das Gymnasium sollte neun Jahre lang dauern, dann acht, jetzt wieder neun, dann wollen wir die ganze Gattung stempeln, lochen und heften.

Wenn wir jetzt wissen, wo dem Staat Innovation am ehesten gelingen können, dann brauchen wir noch die Verbindung zum Durchschnittseinkommen.

Stellen Sie sich eine Deutschlandkarte vor, auf der die Höhe der Durchschnittseinkommen in Farben abgestuft ist. In allen Regionen haben sie kleine Hochlohn-Flecken inmitten von grossen Flächen mit niedrigerem Einkommen. Starnberg in Bayern ist so eine Fleck, Düsseldorf in NRW, Dresden in Sachsen, Hamburg in Norddeutschland. Und dann sehen Sie das gelobte Land! Baden-Württemberg! Kein Bundesland hat so flächendeckend ein hohes Durchschnittseinkommen.

Woher kommt das? Als das amerikanische Arbeitsministerium schon vor vielen Jahren die gleichmäßige Strukturstärke von Baden-Württemberg untersuchte, stieß es auf einen unerwarteten Innovationsmotor: die Steinbeis-Transferzentren an den unzähligen Hochschulen. Ich habe den Präsidenten der Steinbeis-Stiftung gefragt, ob er grundsätzliche Hemmnisse sieht, dieses Modell auf Kunsthochschulen zu übertragen. Er sagte: „Noi“, also „Ja, das geht“. Er hat sogar seine Hilfe angeboten.

Wohlstand beruht auf Innovation. Innovation gelingt dem Staat am besten an den Hochschulen. Die Hochschulen der Kreativwirtschaft vertragen etwas Aufmunterung. Das gelingt durch Transferzentren.

Damit wären ich bei meinem zweiten und letzten politischer Handlungsvorschlag: Der Bund sollte unter allen Hochschulen, die sich für die Kreativwirtschaft interessieren, einen Wettbewerb ausloben: Sie können sich mit einem eigenen Konzept bewerben für die Finanzierung eines Kreativwirtschafts-Transferzentrums an ihrer Hochschule. Ziel ist, kluge, neue, nachhaltige Wege zu finden, um die Hochschulen, die Kreativen und die Wirtschaft zu verbinden, inklusive Technologie sowie Aus- und Weiterbildung. „Peter-Behrens-Zentren“ wäre kein unpassender Name.

Diesen Vorschlag habe ich in den letzten Tagen kritischen Köpfe aus Hochschulen, Unternehmen und Verwaltung zur Bedenkenanhäufung übergeben. Das Ergebnis ist so erfreulich, dass die Universität der Künste in Berlin diesen Gedanken in einer eigenen Veranstaltung von allen Seiten beleuchten will. Wenn Sie dazu beitragen möchten: Wir treffen uns am 15. Mai 2020 um 15 Uhr in Berlin. Wenn ich Ihnen eine Einladung senden darf, schicken sie bitte eine Mail an office@turner.de

Ich komme zum Schluss:

Retten wir Toleranz und Kreativität in unserem Land und beenden wir endlich die Verantwortungslosigkeit ausgerechnet bei den mächtigsten Medienkonzernen. Das Plattformprivileg ist heute ein Plattmachprivileg. Es schadet allen. Statt Plattformwillkür brauchen wir das Presserecht für alle Medien, auch die a-sozialen.

Und lassen Sie uns die Kreativen auf Augenhöhe mit der Wirtschaft bringen. Dafür inspirieren wir die Kunsthochschulen im Geist von Peter Behrens. Lassen Sie uns die passenden Transferzentren entwickeln – Wir treffen uns am 15. Mai um 15 Uhr.

Vielen Dank.