Für die Bürgerstadt

Rede auf dem Parteitag der Piratenpartei Stuttgart am 22. April

Es heißt ja: Gegensätze ziehen sich an. Das ist vermutlich ein Grund, warum ich so neugierig bin auf Sie. Wir sind so unterschiedlich, dass es höchste Zeit wurde, dass wir uns einmal persönlich kennenlernen. Meine Redezeit ist kurz, darum ist es sinnvoller, auf die Punkte zu kommen, die uns verbinden.

Sie sind neu in der Politik. Das bin ich auch. Wahrscheinlich bin ich sogar noch neuer als Sie. In diesem Januar habe ich mich zum ersten Mal um ein politisches Amt beworben. Ich bin noch keine 100 Tage Politiker.

Obwohl ich der Neue bin im politischen Betrieb in Stuttgart habe ich schon heute mehr demokratische Legitimation als manch andere Bewerber um das OB-Amt, der seit Jahrzehnten im Geschäft ist. Ich wurde nicht von einem kleinen Auswahlkreis hinter verschlossenen Türen bestimmt, sondern in einem offenen Wettbewerb auf einem offenen Parteitag mit einem starken Gegenkandidaten. Alle Mitglieder der größten Stuttgarter Partei konnten mitbestimmen und genau zwei Drittel haben sich für mich entschieden. Damit alles mit rechten Dingen zuging, waren sogar externe Wahlbeobachter anwesend – zwar nicht von der UNO, aber dafür von den Piraten. Zwei weitere Parteien, die FDP und die Freien Wähler, haben sich mehrere Kandidaten angesehen und dann einstimmig für mich entschieden.

Nicht ganz neu ist auch mein politisches Interesse und Engagement. Auch wenn ich erst wenige Wochen als Politiker unterwegs bin, muss ich bekennen, dass ich schon seit drei Jahrzehnten Anteil nehme am politischen Geschehen und auch mein Studienfach so gewählt habe. Ich habe Politikwissenschaft studiert, in Deutschland und den USA, und ich habe als Journalist zum ersten Mal in den 80er Jahren über Politik geschrieben. Das war vor dem world wide web, also für Sie zwischen Steinzeit und Bronzezeit.

In ihrer Programmatik gibt es drei Enterhaken, die ich voll und ganz teile. Das ist die Freiheit, die Offenheit für Technik und das Streben nach Beteiligung.

Alle drei Merkmale teile ich nicht erst seit 100 Tagen mit Ihnen, sondern seit vielen Jahren. Und ich rede nicht nur davon, sondern handle auch so.

Fangen wir an mit der Technik.

Ich erinnere mich noch an die Gründungszeit der Grünen. Ich war Schüler hier in Stuttgart und einer der grünen Schlachtrufe war, dass Computer Jobkiller seien. Sogar die beginnende Ausstattung der Schulen mit Rechnern wurde kritisiert. Das war nicht im Mittelalter, sondern in den 80ern! Man kann wohl sagen, dass diese Grundeinstellung sich als nicht sehr zukunftsträchtig herausgestellt hat. Als Unternehmer habe ich immer versucht, technisch auf der Höhe zu sein. Und ich habe als Unternehmer mitgeholfen, viele Arbeitsplätze im Bereich Internet und IT zu schaffen.

Kommen wir zur Freiheit.

Mein erstes Engagement für die Freiheit fällt in die Zeit des polnischen Kriegsrechtes. In Danzig war die freie Gewerkschaft Solidarnosc gegründet worden und Schulkameraden und ich packten Päckchen für Polen. Als die Mauer fiel, bin ich in die DDR übergesiedelt und nach Dresden gezogen. Das ist nebenbei ein knallharter CDU Standpunkt. Die deutsche Einheit und das Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen waren damals mindestens so uncool wie Computer.

Schließlich die Offenheit für Beteiligung. Ich habe sie bisher vor allem als Sich-Beteiligender gepflegt. Wenn es sich ermöglichen ließ, dann habe ich mich beteiligt. ob beim Kirchentag, bei der taz, an Hochschulen. Wenn ich zum OB von Stuttgart gewählt werde, dann möchte ich mehr Menschen an der Gestaltung der Stadt beteiligen, als das bisher der Fall war. Ich fange bei mir selbst an. Ober-Bürgerbeteiligungs-Meister werden. Noch besser: Der OB soll der erste Bürgerbeteiligte der Stadt sein. Und alle anderen auch – wenn sie möchten.

Und dafür brauche ich Sie. Und deswegen bin ich heute hier.

Sie haben vielleicht schon einmal gehört, dass meine Zukunftsvorstellung von Stuttgart die „Bürgerstadt“ ist. Hinter diesem Begriff stehen konkrete Vorstellungen für den Alltag der Menschen.

Ich möchte ihnen vier konkrete Projekte für die Bürgerstadt vorschlagen, die wir gemeinsam angehen. Wir setzen uns vier Ziele und wir verfolgen sie gemeinsam mit aller Kraft. Wir wollen in zwei Jahren allen vier Zielen deutlich näher gekommen sein. Wenn wir gut sind, haben wir sie in zwei Jahren schon teilweise erreicht.

Hier sind die vier Ziele:

Stuttgart soll führend werden bei der Beteiligung von Bürgern in die Entscheidungen der Politik. Dafür gibt es für mich zwei Prinzipien: Erstens – Wir halten klar fest an den Vorteilen der repräsentativen Demokratie. Wir wollen nicht die außerparlamentarische Verantwortungsbeliebigkeit sondern die mitparlamentarische Bürgerbeteiligung. Zweitens: Die Beteiligungsmöglichkeiten müssen so offen sein, dass auch Menschen mit einfacher Bildung und wenig Zeit sich einbringen können. Der früher unsinnigerweise verteufelte Jobkiller Computer ist in Wahrheit eine geniale Bürgerbeteiligungsmaschine.

Das zweite Ziel: Stuttgart soll führend werden in seiner Transparenz. Viele Menschen in Stuttgart stehen dem Projekt des neuen Bahnhofes und dem neuen Rosensteinviertel kritisch gegenüber, weil sie Angst haben, da werde gemauschelt. Liebe Piraten, ich möchte mit ihnen Spielregeln finden und festlegen, wie Stuttgart ein Maximum an Transparenz im öffentlichen Handeln schaffen kann. Ich will dazu gleich ein Beispiel nennen. Auf Ihrer Diskussionsplattform wurde einem Bewerber die Frage gestellt, ob er bereit sei, seine Abhängigkeiten offen zu legen. Diese Frage sollten wir weiter denken. Entscheidend ist, in der Amtszeit keinen Versuchungen zu erliegen, die danach versilbert werden. Eine der Stuttgarter Transparenzregeln kann zum Beispiel sein, dass ein OB nach dem Ende seiner Amtszeit keine Mandate und Aufträge annimmt von Unternehmen, mit denen er zuvor Verträge für die Stadt abgeschlossen hat. Das sage ich für mich hiermit bereits zu. Ich kann Ihnen noch von einer anderen Zusage berichten. Ich habe den Gründer von Transparency International, Peter Eigen, gefragt, ob er uns hilft, Stuttgart zu vorbildlicher Transparenz zu führen. Er hat mir geschrieben: Er helfe gerne.

Das dritte Ziel: Stuttgart soll sich weiterentwickeln bei seiner technischen Infrastruktur. Ich weiß nicht, ob ein stadtweites, kostenloses WLAN die richtige Antwort ist. Aber ich weiß, wer es weiß. Einer der führenden Orte für die „Smart City“ ist hier in Stuttgart das Fraunhofer-Institut IAO. Der zuständige Kopf ist der Wissenschaftler Wilhelm Bauer. Auch er hat große Freude, an dieser Frage mitzuarbeiten.

Und schließlich der vierte Punkt. Er trennt uns, aber ich meine, Stuttgart ist der Ort, an dem wir uns annähern können und müssen. Es geht um die Nutzung geistigen Eigentums. Stuttgart ist eine Hauptstadt des geistigen Eigentums. Stuttgart ist wahrscheinlich die größte geistige Eigentumswohnung, die wir in Deutschland haben. Wenn Bosch, Daimler, Porsche und Fraunhofer ihren Patentschutz verlieren, dann können wir hier das Licht ausmachen. Zugleich ist klar, dass das heutige Recht des geistigen Eigentums nicht mehr zeitgemäß ist. Wir stimmen also zumindest darin überein, dass sich etwas ändern muss. Ich möchte in Stuttgart an einem Tisch die wichtigsten Gegenpole in den Fragen des Urheber-, Marken- und Patentschutzes zusammenbringen. An diesen Tisch wünsche ich mir auch Piraten! An den Tisch gehören Verleger, Autoren, Kreative und entwickelnde Unternehmen. Wir setzen uns das Ziel, einen wichtigen Impuls für die globale Diskussion und Gesetzgebung zu geben. Wir nennen es die Stuttgarter Erklärung.

Diese vier Projekte möchte ich mit Ihnen anpacken. Ich möchte diese Punkte so oder so angehen – aber es macht mehr Spaß, es geht schneller und es wird besser, wenn wir es gemeinsam machen.

Wenn wir Stuttgart zu einem führenden Ort gemacht haben bei Bürgerbeteiligung, Transparenz, Infrastruktur und Urheberrecht, dann können wir schauen, ob uns vielleicht noch viel mehr verbindet.

Ich glaube es ist klar geworden, warum ich für die Bürgerstadt Ihre Hilfe gut gebrauchen kann. Ich will Ihnen aber auch sagen, warum das eine Chance für die Piraten sein kann: Sie bekommen auf der bürgernächsten politischen Ebene den Enterhaken in die Rathaustür. Sie können zeigen, wie sich liquid democracy in einer der wichtigsten Städte Deutschlands anwenden lässt. Sie können ganz konkret Transparenz schaffen und erproben, wie das bei einem der größten Stadtentwicklungsprojekte in Deutschland umzusetzen ist.

Ich würde mich freuen, wenn Sie mich dabei unterstützen.
Ich freue mich, wenn Sie heute beschließen, meine Kandidatur zu unterstützen.

Wenn Sie finden, dass jemand anderes aussichtsreicher für die Piraten ist, dann freue ich mich darauf, wenn Sie mir nach einer erfolgreichen OB-Wahl helfen, dass Stuttgart bei Bürgerbeteiligung, Transparenz, Technik und neuem Rechtsverständnis vorankommt. Die Rathaustür bleibt für Sie offen. Putzen Sie aber bitte die Schuhe ab, wenn Sie reinkommen.

Vielen Dank.